das hab ich soeben gefunden beim durchstöbern meiner ordner... mann, ist das lang her, 1997...
PONYLAND
Alle paar Minuten holte sie den Gartenstuhl und stellte ihn unter das Wohnzimmerfenster des Hauses ihrer Großmutter. Sie stellte sich darauf um hineinzusehen - und wenn ihre Großmutter ihre Position im Schlaf wieder nicht verändert hatte, war sie sich sicher, sie war tot.
Sie wartete, ob sich etwas veränderte, und als nichts geschah, stieg sie wieder herunter und drehte eine Runde um das Haus.
Ihr verstorbener Großvater war Gärtner gewesen, und das sah man dem Garten auch an. An diesem Sommernachmittag im Juli 1997 fiel das Sonnenlicht auf die vielen Bäume, Sträucher, und all die schönen Blumen, und es hätte alles so schön sein können. Aber so war es nicht.
Sie war an diesem Nachmittag allein zu Hause, und da sie mit sich selber nichts anzufangen wusste, wollte sie mal einen Sprung rüber zu ihrer Oma machen. Sie wusste, sie würde wahrscheinlich schlafen, und zwar auf der ausgezogenen Couch im Wohnzimmer. Seit sie so krank war lag sie immer unten im Erdgeschoß, da das Treppen Steigen für sie so anstrengend war.
Ihr Großvater hatte auch vor einigen Jahren Krebs gehabt und war daran gestorben und ihre Großmutter väterlichseits war ebenfalls dieser Krankheit erlegen. Klar, dass sie sich jetzt Sorgen machte. Ihre Großmutter hatte schon so viele Operationen hinter sich, die sie zwar einigermaßen gut überstanden hatte, aber irgendwann würde doch alles aus sein. Und sie fürchtete, das war jetzt dieser Zeitpunkt, denn der Tod würde nie aufgeben.
Als sich bei der nächsten und übernächsten „Fensterkontrolle“ wieder nichts verändert hatte und sie sie so alt und regungslos daliegen sah, bekam sie wie so oft dieses ungute Gefühl im Bauch, ein Zeichen der Angst, wie sie aus Erfahrung wusste. Es war wie bei dem Stephen King - Roman, den sie im Sommerurlaub am Meer gelesen hatte. Zuerst hatte sie sich gar nicht gefürchtet, es kam nur dieses Bauchweh. Es wurde schwerer und drückte immer mehr, bis sie endlich erkannte, oh ja, sie hatte Angst und sie spürte das Grauen. Und es schlich sich nicht nur in ihre Gedanken, sondern es breitete sich auch in ihrem Körper aus.
Ungefähr eine Woche lang dauerten dann die schlaflosen Nächte.
Nun, sicher beeinflusste sie derartige Literatur negativ, weil sie sowieso schon bei jeder Sache das Allerschlimmste vermutete und sie ein schlechtes Verhältnis zum Leben und natürlich zum Tod hatte, jedenfalls hatte sie nun vor dem Haus ihrer Großmutter ein ungutes, mulmiges Gefühl und ihre Gedanken verschwommen und führten immer wieder auf den selben Punkt: Entweder sie spielte wieder mal verrückt, oder es war wirklich etwas geschehen. Etwas, für das sie nichts konnte und nicht verantwortlich war, früher oder später aber einfach geschehen musste.
Sie setzte sich auf den zubetonierten Brunnen und überlegte, versuchte klar und vernünftig zu denken.
Es war wie so oft, wenn ich mir nicht sicher war: Rein theoretisch stand die Chance, dass sich meine Vermutung als richtig erwies, bei 50%. In diesem Moment war ich unsicher und wusste die Wahrheit nicht. Ich fühlte mich hilflos in dieser Zwischenwelt zwischen Wissen und Nichtwissen, und konnte nichts dagegen tun. Sicher war nur, dass ich an diesem Tag noch die Wahrheit erfahren würde. Entweder wäre ich dann verzweifelt, oder ich wäre erleichtert und würde mich gleichzeitig wahnsinnig schämen.
In diesem Moment eben widerstrebte es ihr, die Wahrheit so schnell wie möglich herauszufinden, sie wollte nicht an die Tür ihrer Großmutter anklopfen, „um sie nicht aufzuwecken“, wie sie es sich erst gar nicht einzureden versuchte. Verdammt, sie war doch schon fast fünfzehn, und nicht irgendein ängstliches, kleines Kind, das noch nicht zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Kinder können das nicht wie Erwachsene, dafür müssen sie früh genug das richtige Leben kennenlernen. Man verlernt einfach die Fantasie, zumindest nicht jeder, aber die meisten Erwachsenen reden eben nicht mit unsichtbaren Freunden, kämpfen mit Monstern, oder haben Spaß daran, mit Barbiepuppen oder Masters-of-the-Universe Figuren zu spielen, auch wenn sie wollten, aber das Kind in sich geht einfach irgendwann verloren, aber dafür lernt man, all die Wahrheiten zu erkennen und richtige Entscheidungen für sein Leben zu treffen, anstatt sich Luftschlösser zu bauen (Es stellt sich die Frage, ob man manche Menschen wirklich darum beneiden sollte, dass sie sozusagen ein ewiges Kind geblieben sind).
Es ist hart für einen Jugendlichen, da oft Träume und Illusionen sich in Luft auflösen, und die Realität einem den Kopf wäscht. Zumindest war es bei ihr so.
Verdammt, als sie noch klein war, dachte sie auch immer, ihre Mutter und ihr Vater wären die besten Eltern der Welt, die meisten Menschen auf dieser Erde wären - bis auf Ausnahmen natürlich, denn sie hasste ihren Bruder - vorwiegend gute Menschen, und sie würde einmal, wenn sie groß war, ins Ponyland reisen, das sie von ihrem Fenster aus sehen konnte. (Aber natürlich waren es nur die Umrisse irgendwelcher Berge, und ich weiß bis heute nicht, wie sie heißen und welches Land in dieser Richtung liegt).
Es war für sie schwer gewesen, aus ihrem „Kind“ herauszuwachsen, und manchmal dachte sie, das war sie bis heute eigentlich immer noch nicht. Wie viele andere auch, jagte sie noch immer ihren Träumen hinterher, aber der Unterschied zu früher war, dass sie nun wusste, wie schwer diese zu erfüllen waren, und ohne die nun schon verlorene kindliche Vorstellungskraft und Illusion war das alles nur ernüchternd.
Sie wünschte sich nun an jenem Nachmittag, sie könnte wie ihre Mutter denken und handeln, doch was die wohl tun würde? Sie würde kaum auf einen Sessel steigen und zum Fenster hineinschauen!? Und ihre Freundinnen, alle um so vieles reifer als sie? Sie würden wohl gar nicht auf solche Gedanken kommen und einfach anklopfen und abwarten.
Mein Bruder hatte ja auch gesagt, als ich wieder einmal traurig war, wer ängstlich ist und sensibel, der wird von den anderen verachtet. Dabei wollte ich ja nichts anderes als stark sein und hart im Nehmen.
Sie stieg wieder auf den Gartenstuhl, sah wieder ins Wohnzimmer hinein. Hatte sie sich endlich bewegt? Vielleicht war ja an diesem schönen Sommernachmittag doch noch nicht alles verloren und am Ende. Sie fühlte sich auf einmal besser, und spürte etwas Hoffnung in sich aufsteigen. Untätig dasitzen hilft doch auch nichts, dachte sie plötzlich, und dann stieg sie die fünf Stufen hinauf, die zur Eingangstür führten. Aber als sie schließlich endlich davorstand, verließ sie für Sekunden ihr neu gewonnener Mut. Ich weiß, ich bin ängstlich und dumm, dachte sie, aber...
Was, wenn niemand öffnet?